Enke und die Folgen (Teil I)

Unsere Gesellschaft befindet sich in einem rasanten Wandel, über den zwar viel gesprochen, aber nicht immer genügend reflektiert wird. Die stark beschleunigte Globalisierung des Wirtschaftslebens zwingt alle Teilnehmer zur proaktiven Anpassung und, wenn die Grenze der individuellen Leistungsfähigkeit erreicht ist, zur Mimikry. Die ökonomisierte Kultur erlegt ihren Individuen einen oft unausweichlich scheinenden Zwang zur Teilnahme an der Vernichtung und Neuschaffung von Kulturtechniken auf, in einer Geschwindigkeit, die für einige keinen Sinn mehr macht. Viele könne sich in der schwülen Hitze des self assessment nicht mehr akklimatisieren. Das Selbstbewusstsein der Menschen leidet unter den Zumutungen. Die Einen haben das Schwächegeständnis noch vor sich – sie laufen aufgepumpt mit viel zu viel Arbeit und hektisch durch die gleichen Straßen wie die Anderen, ihre Nachbarn, ihre unerkannten Spiegelbilder, die das Schwächegeständnis schon abgelegt haben und mal zerknirscht, mal weise versuchen, Abstand zu gewinnen.

Immer mehr Menschen werden aus immer mehr Gründen zur Hoch- und Höchstleistung angetrieben, ohne dass dabei Rücksicht auf ihre biologischen Ressourcen genommen wird. Augen zu und durch, „bis zur Rente“. Jedoch – fast alle, die am Hochsprung teilnehmen, reißen noch vor der Rente ihre Latte und treten auf die eine oder andere Art den Rückzug an, oder werden dazu gezwungen. Manche tun dies laut und deutlich, andere verschämt und leise. Nicht wenige nehmen noch ein paar Mal bei gleicher Wettkampfhöhe Anlauf, bevor sie schließlich aufgeben.

Psychologen und Therapeuten sind als Wissenschaftler naturgemäß vorsichtig mit Vergleichen. Gab es früher nicht vielleicht genau so viele depressive Erkrankungen? Erscheint uns das Phänomen durch das Brennglas des Medienhypes größer als es ist? Vieles spricht dagegen. Es ist von „Volkskrankheit“ die Rede, von einer beängstigenden Dunkelziffer – die Mimikry-Rate. Pädagogen schlagen schon lange Alarm, erinnern wir uns nur einmal an Neil Postman. 25 Jahre nach „Das Verschwinden der Kindheit“ lässt sich die steigende Zahl verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher nicht leugnen. Beim Blick auf unsere wüsten Medienlandschaften erscheint uns die Schaffenszeit Postmans heute geradezu als verlorenes Paradies. „Wir amüsieren uns zu Tode“ – der damals den Begriff des „Infotainments“ prägte, und das selbstverständlich negativ meinte, hatte schon eine Vorahnung.

Depression hat viele Väter und noch mehr Gesichter. Ungeklärt sind die Anteile von genetischen, ökologischen und psychosozialen Faktoren bei ihrer Entstehung. Sogar bakterielle Infektionen stehen im Verdacht, sie auslösen zu können. Es ist müßig, nun als Außenstehender darüber zu spekulieren, was in Robert Enkes Leben passiert ist, dass er am Ende nicht mehr leben konnte. Doch genau das tun die Medien, sie können nicht anders, als sich einem Individuum im Modus des Klischees anzunähern. Seine verstorbene Tochter, der Leistungsdruck im Profisport – ja, was denn? Um eine vollständige Antwort zu erhalten, müsste man auch überprüfen, ob er eventuell den Tod seiner Großmutter nicht verkraftet hat. Wollen wir so etwas wirklich wissen?

Befremdlich wirkt auch die Trauerfeier im Stadion. Viel zu bombastisch für einen Einzelnen, denkt man sich. Lässt sich das wirklich noch mit einer angeblich endlich angestoßenen Debatte um das „Tabu-Thema“ Depression rechtfertigen? Muss Prominenz, wie in der Spendenaktion eines TV-Senders, jetzt auch für die gesundheitliche Aufklärung der Bevölkerung herhalten? Handelt es sich bei den Trauergästen wirklich noch um persönlich Betroffene, oder verschwimmt in ihnen nicht schon die Grenze zum Schaulustigen, zum Zuschauer eines schaurig-schönen Spektakels? Amüsieren sie sich wirklich nicht? Im Stadion?

Besonders unerfreulich ist aber noch etwas Anderes, und das ist wiederum so ein Fall, wo zwar viel geredet, aber wenig reflektiert wird. Als Kronzeugen des Nachdenkens über Robert Enke und die Folgen werden viele Mediziner aufgerufen und sie sagen auch ganz viele richtige Dinge. Im Diskurs, den verschiedene Medien entlang dieser Informationen führen, entsteht aber allzu leicht der Eindruck, es handele sich bei Depressionen eigentlich um eine klinische Indikation, die rechtzeitig erkannt und behandelt werden müsse. Macht man es sich da nicht allzu einfach? Tabuisiert man damit nicht die kulturellen Wurzeln eines Phänomens, während man es angeblich vom Tabu befreit? Verfällt man dabei nicht wiederum dem famosen Trick der Leistungs- und Konsumkultur, jeden Leistungsverweigerer und geständigen Schwachen als Kranken zu diffamieren? Muss alles, was auf der großen Bühne nicht mehr taugt, im Hinterzimmer ärztlich versorgt werden?

Die moderne Kultur, das hat Neil Postman gespürt, entfernt sich immer mehr von einem Zustand, der es ihr erlaubt, aufgeklärt über sich selbst nachzudenken. Die Medien haben daran einen enormen Anteil.  Sie sind überwiegend Teil einer anti-aufklärerischen Kraft. Ihr Kapital ist die Aufmerksamkeit der Massen, und in ihrem Streben nach größtmöglicher Akkumulation dieses Kapitals haben sie den Raum des  privaten,  des universitären, des politischen Nachdenkens über kulturelle Fragen erobert. Höchste Zeit sich Gedanken über Gegenstrategien zu machen, diesen Raum für eine aufgeklärte Gesellschaft zurück zu erobern.

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